Das Marienviertel
Marien- und Heilig-Geist-Viertel, Nikolai- und Klosterviertel – seit über 900 Jahren das Zentrum
des historischen Stadtkerns von Alt-Berlin, gelegen östlich der Spree vis-à-vis Alt-Cölln am west-
lichen Ufer, das ebenfalls seit dem Mittelalter existiert – waren bis zu den Bombardierungen im
Februar 1945 dicht bebaut und von einem engen Straßennetz durchzogen.
Vergleicht man das Luftbild von 1925 mit dem heutigen Zustand – momentan ist hier durch die
Errichtung eines U-Bahnhofs vor dem Roten Rathaus samt Trassenführung der U5 in 20 m Tiefe
sowie der Errichtung des Humboldtforums auf dem historischen Schlossareal alles in täglicher
Veränderung begriffen – dann wird sofort augenfällig, dass hier etwas fehlt: pulsierendes Leben
und Betriebsamkeit, einladende Orte, an denen sich Menschen treffen können zum gemeinsamen
Essen oder Plaudern; Plätze zum Verweilen oder auch Flaniermeilen, an denen man etwas sehen
kann und gesehen wird.
Wer heute das Marienviertel und das Heilig-Geist-Viertel von Alt-Berlin sucht (heute „Rathaus-
forum“ und „Marx-Engels-Forum“), der findet zwischen dem östlichen Spreeufer und der Stadt-
bahn am Alexanderplatz, zwischen Rotem Rathaus und den Plattenbauten an der Karl-Liebknecht-
Straße lediglich einen karg möblierten, weitgehend zugepflasterten Stadtraum vor. Dominiert wird
die große seit vier Jahrzehnten offiziell namenlose Freifläche östlich der Spandauer Straße vom 368
Meter hohen Fernsehturm, der 1969 im Rahmen des Hauptstadtwettbewerbs als Teil der der DDR-
Staatsachse errichtet wurde und als Gesamtanlage samt der Freiflächen bis zur Spandauer Straße
nach wie vor unter Denkmalschutz steht.
Als einziges historisches Bauwerk hat die letzten sieben Jahrhunderte hier – vis-à-vis vom Roten
Rathaus – nur die mittelalterliche Marienkirche überdauert. Ansonsten stösst man auf eine weithin
zugepflasterte Ödnis, versehen mit einigen Hochbeeten, Bäumen und Bänken sowie seltsamerweise
gleich zwei Wasserspendern.
Der neben der Kirche befindliche 1891 von Rainer Begas geschaffene Neptunbrunnen, einst ein
Geschenk des Berliner Magistrats an Wilhelm II., gehört gar nicht hierher, sondern stand über ein
sechs Jahrzehnte auf dem Schlossplatz. Weitgehend unbeschadet hatte er den Zweiten Weltkrieg
vor der Südfassade des Berliner Schlosses überstanden; als dieses 1950 vom Ost-Berliner Magistrat
gesprengt wurde, verfrachtete man den Gründerzeit-Brunnen für 20 Jahre ins Depot und baute ihn
schließlich 1969 mittenauf dem bis heute namenlosen Platz wieder auf , eine höchst merkwürdige
Entscheidung, da man mit Relikten aus der Kaiserzeit in der DDR eigentlich wenig im Sinn hatte.
Weiter östlich befindet sich ein flaches Wasserbecken mit Sprudeldüsen aus DDR-Zeiten, das sich
an niedrige gezackten Pavillionbautens anschließt.
Diese Dachzacken der Umgebungsbauten bilden die Ummantelung des unter Denkmalschutz
stehenden Fernsehturms, der das von überall her sichtbare Symbol der sogenannten „sozialisti-
schen Staatsachse der Hauptstadt der DDR“ bilden sollte.
Das Areal, im Süden begrenzt von der Rathausstraße im Süden, flankiert von den sogenannten
Rathauspassagen hat, wie gesagt, bis heute keinen offiziellen Namen. Von der zuständigen Senats-
bauverwaltung wird es kurzerhand als „Rathausforum“ bezeichnet, was aber höchst unzutreffend
ist, versteht man doch unter dem aus dem Lateinischen stammenden Begriff Forum einen „Markt-
platz“, einen Ort der Begegnung, an dem die Menschen zusammenkommen, um ihre Meinungen
und Ansichten auszutauschen, an dem sie verhandeln oder auch handeln mit Waren, in diesem Fall
wäre es dann ein Marktplatz.
– Einen solchen gab es hier immerhin acht Jahrhunderte lang:
Blickte man um 1910 von Rathausturm hinunter in Richtung Norden, dann schaute man auf den
umbauten Neuen Markt vor der Kirche, in dessen Mitte seit 1893 das Lutherdenkmal des Bild-
hauers Paul Otto stand, damals noch umgeben von acht Sockelfiguren.
Kurz vor Kriegsende wurde der Neue Markt durch Bomben vollständig zerstört. Die Luther-Figur
blieb jedoch erhalten, wurde – gemäß Berliner Tradition für vier Jahrzehnte „transloziert“ – in den
Park einer Altenpflegestiftung in Weißensee gebracht – und kehrte erst kurz vor dem Mauerfall
wieder nach Mitte zurück.
Dort fristet Luther nun an der Nordseite
der Kirche am Rand der Karl-Liebknecht-
Straße ein einsames Schattendasein. Die
gute Nachricht: Da demnächst ein rundes
Jubiläum ansteht – im Jahre 1517 schlug
der Reformator seine 95 Thesen an die
Wittenberger Kirchenpforte – beabsichtigt
das Land Berlin, die Skulptur wieder an
ihren ursprünglichen Ort zu versetzen.
Nach den bereits existierenden „Entwür-
fen des Büros Levin-Monsigny zur Verbes-
serung der Umfeldgestaltung der Marien-
kirche“, im Sommer 2012 beauftragt von Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, würde er dann
dort auf einem 1 Meter hohen Sockel mit Treppchen verfrachtet. irgendwo rechts vom Kirchen-
portal. So richtig nach Urbanität und Touristenattraktion sieht das auch nicht aus; aber es ist ja
noch Zeit und man arbeitet daran...
Dominiert wird das gesamte Areal vom 1865 an der damaligen Königstraße errichteten Roten Rat-
haus (seit 1951 Rathausstraße).
Einst der Sitz des Berliner Magistrats ist es heute
Wirkungsstätte des Berliner Senats und des Re-
gierenden Bürgermeisters. Die Bezeichnung Rotes
Rathaus stammt von der roten Klinkerfassade.
Der Bau ersetzte das aus dem Mittelalter stam-
mende zu klein gewordenen Alte Rathaus, dessen
Fundamente vor kurzem freigelegt wurden und
nimmt einen ganzen Straßenblock ein.
Die mittelalterliche Gerichtslaube, Teil des alten Rathauses, wurde erst 1871 abgerissen; einige
noch verwendbare Originalteile wurden geborgen und in einer Kopie im Park von Schloss Babels-
berg verwendet.
Das untere Bild verdeutlich noch einmal, wie dicht das Rote Rathaus vor dem Krieg umbaut war;
heute gähnt auf seiner Vorderseite eine Stadtbrache, das sogenannte Rathausforum. Momentan
sind – wie bereits erwähnt – sämtliche städtebaulichen Konturen verschwunden, da durch den Bau
der U-Bahnlinie 5 das gesamte historische Zentrum zwischen Alexanderplatz und dem westlichen
Ende des Schlossplatzes eine einzige Baustelle ist.
Umbautes Rathaus vor dem Zweiten Weltkrieg.
Blick vom Rathausturm auf die Dächer des Marienviertels.