Das Nikolaiviertel (I)
Mitten in einer Millionenstadt, deren historische Mitte vor über sechs Jahrzehnten innerhalb einer
Woche durch Flächenbombardierungen ausgelöscht wurde, stößt der ortsunkundige Besucher plötz-
lich unvermittelt auf ein – zumindest dem ersten Anschein nach – klitzekleines Stück „heiles“ Alt-
Berlin, ein aus wenigen Sträßchen und Gässchen bestehendes, um eine mittelalterliche Kirche herum
gebautes Viertel mit Häuschen, die so tun, als stammten sie aus deutschen Kleinstädten des 18. oder
19. Jahr-hunderts, versehen mit Arkaden und abgestuften Giebeln, voller kleiner Geschäfte und
nostalgischer Lokale, mit Namen wie „Zum Nussbaum“, „Gerichtslaube“ oder „Zur Rippe“, die ebenso
aus einer vergangenen Zeit zu stammen scheinen.
Doch das kleine idyllische Viertel, das in allen Touristenführern als typisch berlinisch beschrieben
wird, ist ein Neubauprojekt, entworfen auf dem Reißbrett der DDR-Planer in den 1970er Jahren,
pünktlich fertig gestellt 1987 als Beitrag Ost-Berlins zur 750-Jahr-Feier der Stadt. (Siehe Nikolaiviertel
Wiederaufbau)
Einst mittelalterliche Keimzelle Alt-Berlins, nach 7 Jahrhunderten im Februar 1945 während der Bom-
bardierungen im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, liegt das neu entstandene Viertel um die eben-
falls wiederaufgebaute Nikolaikirche heute in einer höchst unwirtlichen Umgebung.
Im Norden befindet sich die U5-Baustelle, die sich mittlerweile auf das gesamte Marx-Engels-Forum
erstreckt; im Süden jedoch, und das ist viel schlimmer, befindet sich direkt neben den gemütlichen
Lokalen und Biergärten, neben den Museumsgebäuden Knoblauchhaus und Ephraim-Palais die acht-
spurige Grunerstraße, über die täglich tausende von Autos fahren.
Gelegen zwischen der achtspurigen Grunerstraße im Süden (rechts im Bild), dem „Marx-Engels-
Forum" im Norden (links im Bild) und bis auf weiteres Abraum-Entsorgungs-Baustelle der U5 und der
Spree in Richtung Westen, wirkt es wie eine gastliche Insel inmitten einer urbanen unwirtlichen Stadt-
wüste, deren Zukunft derzeit ungewiss ist, die jedoch so – da sind sich Stadtplaner und Lokalpolitiker
einig – keinesfalls bleiben kann.
Am Nikolaiviertel selbst will in naher Zukunft niemand etwas verändern – da gibt es wahrlich derzeit
dringendere Baustellen –, doch immerhin mag es (nach nunmehr 25 Jahren) zur Orientierung
dienen:
Funktioniert die nachträgliche Wiederherstellung von 3-4 geschossigen Bürgerhäusern, von klein-
teiligen Platzsituationen, wie es sie seit Jahrhunderten an dieser Stelle gab, als etwaiges Leitbild für
die Wiedergewinnung von Urbanität in jenen riesigen Freiflächen ohne wirkliche Aufenthaltsqualität
zwischen Rathaus und Marienkirche, Schloss und Alexanderplatz?
Bevor also nachgedacht werden soll über die derzeitige Gegenwart des Nikolaiviertels und die stadt-
räumliche Zukunft der angrenzenden Areale – hierzu zählen auch der ehemalige Molkenmarkt samt
Grunerstraße – soll ein kurzer Rückblick vorgenommen werden.
Mitten im Nikolaiviertel lag die ihm Namen gebende Nikolaikirche, das älteste erhaltene Gebäude der
Stadt und Berlins erste Kirche. Wie bereits in der Einführung erläutert, begann die Geschichte der
Stadt Berlin, 1237 erstmals nachweisbar, da urkundlich erwähnt, als östliche Hälfte der von der Spree
geteilten Doppelstadt Berlin-Cölln, die sich an einem Kreuzungspunkt von Handelswegen zu Land und
Wasser beiderseits der Spree gegründet hatte und zunächst durch den Mühlendamm und später durch
eine Brücke miteinander verbunden war.
Auf dem rechten Vogelschauplan von 1588 kann man alle vier Viertel im Anschnitt ganz gut erkennen,
am oberen linken Bildrand die umbaute Marienkirche mit dem Neuen Markt, am linken Bildrand ein
Teil des Renaissanceschlosses – das Barockschloss wurde erst um 1700 errichtet. Unterhalb der
Nikolaikirche erkennt man die Spree und einige Uferhäuser der Burgstraße die zum Nikolaiviertel
gehören. Diagonal durch das Bild zieht sich – wie auch im linken Plan – die Königstraße (damals noch
Oderberger Straße, heute Rathausstraße.)
Die heutige Nikolaikirche geht auf mindestens zwei Vorgängerbauten zurück. Der erste entstand um
1230 und war eine spätromanische dreischiffige Feldsteinbasilika, von der man heute nicht mehr
genau weiß, wie sie aussah. Benannt wurde sie nach dem Heiligen Nikolaus von Myra, einem der
bekanntesten Heiligen der Ostkirchen und der lateinischen Kirche. Sein Gedenktag ist der
6.Dezember, der nicht nur in zahlreichen Kirchen begangen wird, sondern heute weltweit als
Nikolaustag bekannt ist. Als ältestes Bauwerk Berlins bildete die Kirche mit dem Molkenmarkt den
Kern der im Aufbau befindlichen Handelsstadt Berlin, während auf der gegenüberliegenden Spreeseite
die Siedlung Cölln um die Petrikirche heranwuchs.
Bald nach ihrer Fertigstellung wurde die Kirche zu einer frühgotischen Hallenkirche umgebaut. Von
dieser sind zwei Rundfenster und der aus behauenen Granitquadern bestehende Sockelbau der West-
türme mit seinem niedrigen Spitzbogenportal erhalten geblieben. 1379 wurde mit der Vergrößerung
der Kirche begonnen, die jedoch ein verheerender Stadtbrand am 11. August 1380 zerstörte. Beim bis
1470 dauernden Wieder- bzw. Neuaufbau entstand eine dreischiffige, spätgotische Hallenkirche mit
Umgangschor und geschlossenem Kapellenkranz in Backstein. Ihre Länge betrug etwa 60 Meter und
ihre Breite 23 Meter. Von den zwei ursprünglich vorgesehenen Türmen entstand in gotischer Zeit nur
der südliche. Er hatte ein Turmschiff aus Backstein und einen spitzen Helm mit einem
Feldsteinunterbau. Eine besondere Bedeutung hat die Nikolaikirche als Wirkungsstätte und Ort der
Zusammenarbeit des bedeutenden protestantischen Kirchenlieddichters Paul Gerhardt, der hier von
1657 bis 1667 als Pfarrer tätig war.
Im Juli 1809 fand in der Nikolaikirche die erste konstituierende Sitzung der Stadtverordnetenver-
sammlung statt (oben rechts). Noch am selben Tage wurde der erste Berliner Magistrat vereidigt – ein
wichtiger Markstein auf dem langen Wege der Berliner Demokratie.
Die unsymmetrische Einturmfassade des gotischen Baus prägte bis ins 19.Jahrhundert das Bild der
Stadt Berlin. Im Zuge einer umfassenden 1876–1878 durchgeführten Restaurierung wurde schließlich
durch den Stadtbaurat Hermann Blankenstein unter Abriss des historischen Turms eine neugotische
Doppelturmfassade errichtet.
Nikolaiviertel Luftaufnahme ca 1925 Kartenausschnitt – Zustand ca
1933
Bis zum großen Stadtbrand im Jahr 1380 herrschte in
Alt-Berlin der giebelständige Haustyp aus Holz vor,
der mit Lehm und Geflecht ausgefacht war. Im Erdge-
schoss befanden sich Feuerstellen, in den Oberge-
schossen wurde gewohnt. Nach den Verheerungen
durch Feuer wurde in Alt-Berlin der Backstein als
Baustoff bevorzugt und bald auch behördlich vorge-
schrieben. So entstanden – beginnend an den Ecken
– Backsteingebäude, die nicht mehr mit dem Giebel
sondern mit der Traufseite zur Straße zeigten.
Während Berlin sich ringsherum ständig ausdehnte
und neue städtische Zentren sich bildeten, veränderte
sich das Nikolaiviertel kaum; hauptsächlich Hand-
werker wohnten und arbeiteten in den engen,
winkligen Gassen, die von der Spandauer Straße und
vom Molkenmarkt in Richtung Nikolaikirche führten.